Veranstaltung: Arbeit und Beschäftigung in der Zange
Doppelter Druck durch Digitalisierung und ökologische Transformation auf die berufliche Anpassung in der deutschen Industrie
Am 27. Februar 2020 hat die Stiftung Arbeit und Umwelt ein Fachgespräch zu den aktuellen Transformationslinien in ihrer Auswirkung auf Arbeit und Beschäftigung in der industriellen Produktion durchgeführt. Gemeinsam mit Betriebsräten, Expert:innen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Vertretern von Gewerkschaften wurde in den Blick genommen, wieweit die Folgen der Digitalisierung und die politischen Maßnahmen zur Erreichung von Energie- und Klimazielen zu einem interdependenten, doppelten Anpassungsdruck auf die Berufe führen. Insbesondere innerhalb der Branchen der IGBCE ist nach Einschätzung der Stiftung Arbeit und Umwelt ein doppelter Transformationsdruck zu erwarten. Diesem müssen sinnvolle Anpassungsmaßnahmen in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung in den Branchen der IGBCE entgegengesetzt werden. Darüber hinaus gilt es, das berufliche Qualifizierungssystem insgesamt zu stabilisieren.
Eingangs skizzierte Dr. Gerd Zika vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mögliche Szenarien der Entwicklung des Arbeitsmarkts. Während der Digitalisierungstrend sich deutlich abzeichnet, schätzt Dr. Zika die Auswirkungen durch die ökologische Transformation noch gering ein; wobei ein eigenständiges Prognosemodell dazu erst aufgebaut wird. In den bisherigen Modellen kann grundsätzlich zwischen Berufen unterschieden werden, die sich in der Entwicklung robust zeigen bzw. denjenigen, die dem Anpassungsdruck stärker ausgeliefert sind oder sogar wegfallen. Im Ergebnis muss entsprechend arbeitspolitisch differenziert werden bei Angeboten zu Zusatzqualifikation oder Umschulungen, neben den laufenden Ausbildungsanstrengungen wegen des zu erwartenden Fachkräftemangels.
Im Anschluss problematisierte Prof. Dr. Rita Meyer vom Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (IfBE) die Erosion von regulierenden Strukturen im gesamten System der Beruflichkeit in Deutschland. Sowohl durch äußeren Druck im europäischen Integrationsprozess als auch durch die aktuellen gesellschaftlichen Transformationen steht das System der Berufsbildung unter Druck. Vor allem mit der Akademisierung fachlicher Ausbildung entwickelt sich ein unübersichtliches und vor allem noch unreguliertes Feld zwischen beruflich-betrieblicher und akademischer Ausbildung. Das deutsche System sei bisher in seiner historischen Entwicklung als vorbildlich anerkannt, da die Qualität im beruflichen Aus- und Weiterbildungsbereich in Deutschland breit durch die Sozialpartner, die Politik und die Bildungssysteme abgesichert wurde. Von allen Sozialpartnern sollten entsprechend Anstrengungen geleistet werden, grundsätzlich das System strukturell in der Transformation zu bewahren als Möglichkeit der arbeitspolitischen Gestaltung und damit stabilisierendem Faktor im Arbeitsmarkt.
Britta Beutnagel, gleichfalls vom IfBE, erläuterte Forschungsergebnisse aus der Fallstudie “Lernort Betrieb“, die in Betrieben aus den Branchen der IGBCE durchgeführt worden ist. Ein Beispiel: Trotz unterstützender Kontrollsysteme mit denen heutige Anlagen sicherheitstechnisch ausgestattet sind, blieben umfassende Problemlösungskompetenzen und die Vermittlung von teilweise nur informell weitergegebenes Prozesswissens Kernthema in der Aus- und Weiterbildung. Hier müssten nicht nur die spezifischen Qualifizierungsanforderungen für bestimmte Anlagen ermittelt und festgelegt, sondern auch generell Antizipationsfähigkeit auf Facharbeiter- und Führungsebene vermittelt werden. Laut der Studie äußern außerdem die Mitarbeiter Unsicherheit bezüglich der Anerkennung ihrer individuellen Qualifizierungsanstrengungen, sowohl im sozialen Berufsumfeld und hinsichtlich einer geregelten Verortung in den Organisationshierarchien. Der regulierende Rahmen der Aus- und Weiterbildung sowie die Qualifizierung von Führungskräften für die dadurch entstehende, zusätzliche fachliche und soziale Mediatorenfunktion seien noch nicht ausreichend.
Robert Mosdzien von der Evonik Resource Efficiency GmbH gab einen Überblick über die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in seinem Unternehmen im Bereich Production and Technology – Digital Transformation. Angesichts der zu erwartenden Engpässe an qualifizierten Mitarbeitern im Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt werden Strukturen aufgebaut, um Ist-Zustände und Wanderungsbewegungen zu analysieren und darauf basierend die Qualifizierungsbedarfe für Evonik zu ermitteln. Das Ziel ist, den Mitarbeiter:innen geeignete Maßnahmen anbieten zu können. Evonik habe in Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber, Betriebsräten und Fachabteilungen ein digitales Leitbild festgelegt. Von der Politik würde in dem Unternehmen mehr Dynamik hinsichtlich der Analyse von spezifischen Entwicklungen und den entsprechenden Qualifizierungsbedarfen im Aus- und Weiterbildungsbereich sowie mehr Förderung der betrieblichen Qualifikation erwartet.
Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) stellte Stephan-André Schmid aktuelle politischen Ziele in der Arbeitspolitik vor und erläuterte auch neue zur Verfügung stehende Maßnahmen durch das Qualifizierungschancengesetz. Das BMAS begreife Weiterbildungsinvestitionen als gesamtwirtschaftlich notwendige Maßnahme, identifiziere aber ein „qualifikatorisches Mismatch“ im Aus- und Weiterbildungsmarkt. Im Jahr 2020 hat das BMAS einen Schwerpunkt auf beruflicher Qualifizierung gelegt, wofür 3,4 Milliarden € zur Verfügung stehen – insbesondere auch für die Bezuschussung der Lohnfortzahlung sich qualifizierender Mitarbeiter. Eine Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern wird hierbei gesucht, wodurch im Jahr 2019 eine Steigerung der Weiterbildungsbeteiligung von 13 Prozent erreicht wurde. Das BMAS richte Aktivitäten vor allem auch auf die Qualifikation und Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen bzw. eine Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit durch die gezielte Förderung von gefährdeten Jugendlichen, deren Erwerbschancen von substanzieller Bildung beispielsweise durch individuelles Coaching abgesichert werden soll.
Zuletzt stellte Jörg Kunkel, Abteilungsleiter Arbeitsmarktpolitik in der IGBCE, einen Nationalen Weiterbildungsplan vor, der exemplarisch von den Sozialpartnern in der Chemiebranche entwickelt wurde und sich insbesondere der Standardisierung und Modularisierung von Aus- und Weiterbildung widmet. Er wird in den nächsten Wochen und Monaten an die Politik herangetragen. Des Weiteren informierte Jörg Kunkel auch darüber, dass im November 2019 in der Chemiebranche zwei zusätzliche Tage monatlich im Zeitkonto der Mitarbeiter tariflich vereinbart wurden, die für die Freistellung und Qualifizierung eingesetzt werden können.
In der abschließenden Diskussion wurde festgehalten, dass dies aufgrund der zunehmenden Arbeitslast als Schritt in die richtige Richtung einzuordnen ist. Mitarbeiter für die ehrenamtliche Tätigkeit in Gremien zu gewinnen, wird laut Robert Mosdzien auch in seinem Unternehmen immer schwieriger, da die zusätzliche Arbeit „on top“ nicht mehr geleistet werden kann. Zusammenfassend stellt vor allem aber die aktuelle Unsicherheit im Arbeitsmarkt aufgrund der fehlenden Standards zur Beurteilung der diversifizierten Qualifizierungsmöglichkeiten eine problematische Situation dar. So tun sich, in den Worten von Prof. Meyer, „ganz neue Segmentationslinien“ im Arbeitsmarkt auf, die es dringend politisch einzuhegen gilt.