Von Prof. Dr. Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung
Die öffentliche Debatte um eine aktive Industriepolitik hat sich in den vergangenen Jahren massiv verschoben: Noch unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Pandemie musste man aufpassen, nicht schief angeguckt zu werden, wenn man den Begriff „Industriepolitik“ überhaupt in den Mund nahm. Industriepolitik war vielleicht etwas, was das staatsgläubige, zentralistische Frankreich wollte, aber nichts, was man im agilen Deutschland bräuchte und in Betracht ziehen sollte, war damals vorherrschend Meinung.
Mit Corona, dem Ukraine-Krieg und den anstehenden Transformationsanforderungen hat sich die Diskussion komplett gedreht: Auch in Deutschland wird wieder über Industriepolitik geredet und sogar industriepolitisch gehandelt. In der Corona-Krise wurde die Produktion von FFP2-Masken im Inland gefördert. Die Bundesregierung unterstützt nun massive staatliche Förderungen für Halbleiter- und Batteriezellenproduktionen im Inland. Mit Gas- und Strompreisbremse werden derzeit klar auch produzierende Unternehmen mit hohem Energieverbrauch gefördert. Und aktuelle Konzepte etwa zum Industriestrompreis aus dem Wirtschaftsministerium beinhalten eindeutig industriepolitische Zielsetzungen.
Das Umdenken ist dabei zunächst einmal richtig. In einer Phase, in der innerhalb weniger Jahrzehnte unsere Wirtschaft grundlegend von fossilen Energieträgern entwöhnt und in eine neue, CO2-neutrale Struktur überführt werden soll, ist Industriepolitik richtig und wichtig. Zum einen kann eine gut gemachte Industriepolitik technologische Innovationen beschleunigen und so den Übergang für die Wirtschaft in ein post-fossiles Zeitalter erleichtern.
Zum anderen haben auch die anderen großen Wirtschaftsblöcke der Welt, die USA und China, industriepolitisch aufgerüstet. Beide Staaten wollen strategisch wichtige Zukunftsindustrien bei sich im Land haben, und fördern diese Industrien, wo sie nur können. Dabei sind auch die USA inzwischen bereit, Grundprinzipien der Welthandelsorganisation zu verletzen und damit die bestehende globale Handelsordnung zu beschädigen: Die Vorschriften im US-Inflation Reduction Act, dass volle Förderung etwa für E-Autos oder in der Wasserstoffproduktion nur erhält, wer einen hohen Teil der Wertschöpfung durch Produktion in den USA schafft, steht eindeutig im Konflikt mit WTO-Regeln, die solche „local content“-Regeln untersagen. Wenn aber die anderen großen Wirtschaftsblöcke industriepolitisch aktiv sind, Deutschland und die EU sich jedoch zurückhalten, wächst das Risiko, dass Schlüsselbranchen bald nur noch in China und den USA ansässig sind. Für Europa und Deutschland würde das heißen: Weniger gute Jobs, geringere Einkommen und eine noch größere Abhängigkeit von den USA und China.
Doch nicht alles, was derzeit unter dem Label „Industriepolitik“ passiert, ist gut, richtig und zielführend. Die aktuelle Industriepolitik ist erstaunlich national ausgerichtet. So ist den EU-Staaten mehr Spielraum gegeben worden, einzelne Industrien zu fördern. Ein umfassender europäischer Ansatz fehlt allerdings trotz erster Elemente im EU-Programm zum „Green Deal“. Die EU-Kommission hat zwar viele gute Ideen und Ziele, aber kein frisches Geld, um diese zu fördern oder umzusetzen.
Das Problem an nationaler Industriepolitik ist dabei dreierlei. Erstens besteht bei nationaler Industriepolitik immer die Gefahr, dass nationale Standorte nicht nur im Wettbewerb mit Standorten in den USA oder China gefördert werden, sondern auch im Wettbewerb mit den nahen EU-Partnern. Ein innereuropäischer Subventionswettlauf würde aber nicht nur viel Geld verbrennen, sondern auch den einheitlichen Binnenmarkt beschädigen.
Zweitens schafft ein Verlassen auf nationale Industriepolitiken in Europa eine Zweiklassen-Gesellschaft: Wenn Industriepolitik mit nationalen Geldern stattfinden muss, dann können jene, die entweder schon einen bedenklich hohen Schuldenstand haben oder jene, die gerade im Konflikt mit den europäischen Schuldenregeln (die der deutsche Finanzministerium möglichst streng halten möchte) stehen, ihre Industrien nicht fördern, während die Industrien in Deutschland gefördert werden.
Drittens droht damit ein rein nationaler Ansatz, den Wettbewerb in Europa zu beschädigen. Dieser Wettbewerb ist aber wichtig, wenn man verhindern möchte, dass die industriepolitisch geförderten Unternehmen nicht einfach die Subventionen einstecken, sich aber nicht mehr bei Innovationen oder Kostensenkungen anstrengen. Erfahrungen mit Industriepolitik in anderen Ländern zeigt, dass diese dann erfolgreich ist, wenn der Wettbewerbs- und Performancedruck auf die Unternehmen hoch bleibt. Die Gefahr, dass bei nationaler Industriepolitik ein einzelner nationaler „Champion“ gefördert wird, auch wenn dieser wenig beweglich oder wirtschaftlich ist, ist größer, als wenn die Unternehmen in vollem europäischen Wettbewerb stehen.
Das Zurückdrängen der europäischen Ebene ist umso schädlicher, als dass viele Lösungen in der Transformation viel besser europäisch als national gefunden werden könnten. Eine Produktion von grünem Strom, Wasserstoff und einigen energieintensiven Grundprodukten auf der iberischen Halbinsel oder dem Balkan mit entsprechendem Transmissionsnetzwerk quer durch die EU könnte auch dauerhaft die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie erhöhen und sichern, gleichzeitig aber in Südeuropa Arbeitsplätze und Einkommen schaffen. Deutsche Unternehmen, die etwa Windräder oder Anlagen zur Wasserstoffproduktion bauen würden ebenso profitieren.
Kurz: Eine wirklich erfolgreiche Industriepolitik muss europäisch gestaltet werden. Wenn nur einzelne Staaten wie Deutschland oder Frankreich vorpreschen, wächst die Gefahr der Verschwendung öffentlicher Mittel, wie auch das Risiko, andere EU-Staaten so zu verprellen, dass am Ende gemeinsame Lösungen zum Wohle aller erschwert werden und die anderen Staaten Barrieren auch für deutsche Unternehmen hochziehen. Das würde am Ende auch der deutschen Industrie schaden. Denn auch wenn China oder die USA wichtige Wachstumsmärkte sind – die EU ist für deutsche Unternehmen ein wichtiger Heimatmarkt, aus dem viele überhaupt erst die Stärke für die Expansion in den Rest der Welt gezogen haben.
Sebastian Dullien
Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung