Carbon Leakage-Schutz für die energieintensiven Industrien (EID) in Deutschland und Europa: eine Bedingung für die Wettbewerbsfähigkeit einer treibhausgasneutralen Industrie
Mit diesem Thema beschäftigten sich auf einer Fachtagung am 18. Februar 2020 in Berlin Wissenschaft, Unternehmen sowie Betriebsräte und Gewerkschaften. Deutschland hat als eines von wenigen Länder in Europa noch bedeutende energieintensive Industrien (EID). So sind beispielsweise die Stahl- und Chemieindustrie, die Papier- und Glasindustrie aber auch die Kupfer- und Aluminiumindustrie zentrale Bestandteile der industriellen Wertschöpfungsketten in Deutschland. In allen energieintensiven Industrien in Deutschland finden rund 880.000 Beschäftigten ihr Auskommen und erwirtschaften mehr als 330 Milliarden Euro Umsatz.
Diese Branchen vereint, dass ihre Produkte mit hoher Energieintensität hergestellt werden müssen, und sie im weltweiten Wettbewerb stehen. Die standortspezifischen Energiekosten haben daher eine entscheidende Bedeutung für die Unternehmen. Dies hatte die europäische und deutsche Politik bereits früh erkannt. Sie hat durch freie Zuteilungen von Emissionszertifikaten im Rahmen des europäischen Emissionshandels und durch spezifische Energiepreise, die durch klima- und energiepolitische Maßnahmen bedingten höheren Energiekosten für die energieintensiven Industrien in Europa und Deutschland ausglichen. Die auch als „Carbon-Leakage Schutz“ bezeichneten Maßnahmen konnten die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Branchen in Deutschland bislang weitgehend sichern.
Die aus dem Pariser-Klimaschutzabkommen für die Europäische Union abgeleiteten erforderlichen CO2-Minderungsmengen und das Ziel einer weitgehenden Klimaneutralität der Industrie bis 2050 stellen aber enorme neue Anforderungen an die energieintensiven Branchen und damit auch an den „Carbon-Leakage-Schutz“ in Europa.
Diese wurden in der auf der Tagung vorgestellten Studie „Auswirkungen einer CO2-Steuer auf sechs energieintensive Industrien sowie auf die neue Stromwirtschaft“ deutlich, die das Beratungsunternehmen Schultz projekt consult im Auftrag der Stiftung Arbeit und Umwelt der IGBCE erstellt hat. Anhand von drei verschiedenen CO2-Bepreisungsmodellen und der Weiterentwicklung des Europäischen Emissionshandelssystems wurden die Stromkostenentwicklungen energieintensiver Unternehmen modelliert. Die Modelle sehen eine Inputbesteuerung vor, auf der Ebene der Brennstoffe. Lediglich das in der Studie gewählte Modell mit einem CO2-Preis von 50 €/t CO2, das gleichzeitig die Streichung aller bestehenden Energiesteuern und Abgaben vorsieht, würde zu keinen wesentlichen Mehrbelastungen bis 2025 führen. In einem längeren Zeitraum bis 2035 würden bei diesem Modell energieintensive Branchen sogar entlastet. Aber nur unter der Annahme, dass bis spätestens 2035 der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix bei 65 Prozent liegen wird. In den beiden weiteren Modellen mit einem CO2-Preis von 100 €/t CO2, einmal als Ersatz für die bestehenden Energieabgaben und einmal „on-top“ auf die bestehenden Energieabgaben, kommt es zu deutlichen Energiekostensteigerungen für alle untersuchten energieintensiven Branchen.
Gäbe es ein weltweites level playing field für die energieintensiven Industrien in Hinsicht auf Klimaschutzmaßnahmen, Strom- und CO2-Kosten, wären die Kostensteigerungen kein allzu großes Problem. Sie wären dann für alle Markteilnehmer gleich und der einheitliche CO2-Preis würde vor allem auch zu einem gewünschten Innovationwettbewerb nach emissionsärmeren Technologien und Produkten führen.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Realität zeigt aber, dass auch in mittlerer Sicht nicht mit weltweiten zumindest annähernd gleichen C02-Regimen, beziehungsweise Preisen zu rechnen sein wird. Der jetzt schon durch energie- und klimapolitische Maßnahmen bedingte Kostendruck für die deutsche energieintensive Industrie und die damit verbundenen Wettbewerbsprobleme wurden durch zwei Beispiele von Unternehmen aus der Nichteisenindustrie in der Tagung deutlich. Die Teilnehmer der Tagung waren sich entsprechend einig, dass ohne die Weiterentwicklung und Anpassung der europäischen Carbon-Leakage-Schutzmaßnahmen die energieintensive Industrie in Deutschland und Europa eine geringe Perspektive hätte.
Mit der Frage, wie der zukünftige europäische Carbon-Leakage-Schutz gestaltet werden muss, befasste sich der zweite Input der Tagung. Prof. Dr. Karsten Neuhoff vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) umriss die weitreichenden Anforderungen für die Industrie, die aus dem angestrebten Ziel der Klimaneutralität in der Europäischen Union entstehen. Die Umstellung von energieintensiven Herstellungsprozessen auf CO2-arme beziehungsweise CO2-freie Energieträger ist dabei ein wichtiger Schritt. Er müsse aber mit weiteren Steigerungen der Ressourceneffizienz und stärkeren Prozessen einer Kreislaufwirtschaft (Circular economy) einhergehen.
Das Emissionshandelssystem und der Carbon-Leakage-Schutz müssten unter diesen Voraussetzungen einerseits sicherstellen, dass für die Unternehmen genügend Anreize entstehen, in emissonsärmere Produktionsprozesse und Produkte zu investieren. Anderseits müsste verhindert werden, dass CO2 durch Grundstoffe und Fertigprodukte in die Europäische Union importiert werden und gleichzeitig Wettbewerbsnachteile für die europäische energieintensive Industrie entstehen. Anhand von drei aktuell politisch und wissenschaftlich diskutierten Carbon-Leakage Schutz-Modellen zeigte Dr. Neuhoff die Herausforderungen auf, diese verschiedenen Zielstellungen in ein kohärentes Regulierungssystem zu überführen. Denn die dazu benötigten Grenzausgleichsmechanismen (border carbon adjustments) sind WTO-konform auszugestalten. Außerdem ist es bei importierten Fertigprodukten (zum Beispiel Autos) sehr komplex und aufwändig die spezifischen „CO2-Rucksäcke“ zu ermitteln. Die Informationen werden jedoch benötigt, damit sie kostenmäßig hinsichtlich ihres CO2-Gehaltes den europäischen Fertigprodukten gleichgestellt werden könnten. Dr. Neuhoff präferierte deshalb ein Modell des Emissionshandels mit dynamischer Allokation (fortwährende Reduktion der Emissionszertifikate) und gleichzeitig initiierten, ambitionierten Standards für CO2-arme bzw. CO2-freie Produkte. Zusätzlich soll eine Klimaabgabe auf Ebene der Konsumenten erhoben werden. Die Klimaabgabe soll dabei ausschließlich zur Finanzierung von Investitionen und der Förderung von Innovationen in eine klimaneutrale Wirtschaft genutzt werden. Durch die Klimaabgabe auf der Konsumentenebene und durch die Produktstandards wären auch importierte Produkte erfasst. Die anschließende Diskussion der Ausführungen zeigten jedoch einige Fragestellungen und Unwägbarkeiten, die auch dieser Vorschlag beinhaltet.
In der abschließenden Podiumsdiskussion betonten Carolin Scheniut von der Deutschen Energieagentur (Dena), Klaus Mindrup, Mitglied des deutschen Bundestages (SPD) und Ralf Bartels, Abteilungsleiter Wirtschaft und Nachhaltigkeit der IGBCE, die Notwendigkeit des kurzfristigen politischen Handlungsbedarfes. Angesichts der Abschaltung des letzten Kernkraftwerkes im Jahr 2023, des gleichzeitig beginnenden Ausstiegs aus der Kohleverstromung und den Klimaschutzzielen steht die deutsche Energieversorgung respektive die energieintensive Industrie schon kurzfristig vor erheblichen Herausforderungen und Veränderungen. Die Politik habe den dringenden Handlungsbedarf beim Umbau der Energieversorgung und der Zukunftssicherung der energieintensiven Industrien bislang nur unzureichend realisiert. Besonders deutlich würde dies am fehlenden Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und den dazu komplementär notwendigen Energiespeichern sowie deren Infrastruktur. Tragfähige politische Konzepte, wie die bevorstehende Transformation der Industrie insgesamt unterstützt werden muss, damit mehr Investitionen und Innovationsprozesse in emissionsärmere Produkte und Produktionsprozesse erfolgen, fehlen derzeit noch. Instrumente wie ein Transformationsfonds oder auch Contracts for Difference (CFD) mit denen Unternehmen bei Investitionen und Innovationsprozessen unterstützt werden könnten, gehören dringend auf die politische Agenda – neben dem noch zu konkretisierenden Carbon Leakage-Schutz. Darin waren sich sowohl die Podiumsdiskutanten wie auch die Teilnehmer der Tagung einig.