Chatham House in Brasilien
 

„Grüner Neokolonialismus?“ –
Unsere Transformationsagenda wirft in Lateinamerika Fragen auf.

Austausch mit Gewerkschafter*innen aus Lateinamerika in Fortaleza, Brasilien.

Quelle: Andrea Arcais

Chatham House, das ist ein britischer Think-Tank der 1920 gegründet wurde, dessen Mitglieder sich mit aktuellen Fragen und Analysen des politischen Zeitgeschehens auf internationaler Ebene befassen. So fasst es treffend Wikipedia zusammen. Berühmt und einflussreich machte die Denkfabrik die Formulierung einer wichtigen Leitlinie für Gespräche, die Vertraulichkeit benötigen, um wirken zu können: die Chatham-House-Regel:

„Bei Veranstaltungen, die unter die Chatham-House-Regel fallen, ist den Teilnehmern die freie Verwendung der erhaltenen Informationen unter der Bedingung gestattet, dass weder die Identität noch die Zugehörigkeit von Rednern oder anderen Teilnehmern preisgegeben werden dürfen.“

Am 20. und 21. Juli 2024 war Chatham House in Fortaleza, Brasilien. Auf Einladung des DGB-Bundesvorstands und der Friedrich-Ebert-Stiftung konnte ich für die Stiftung Arbeit und Umwelt der IGBCE an einem unter der zitierten Regel durchgeführten Austausch teilnehmen. Die Überschrift des Workshops lautete „Reorganization of world trade and value chains“. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay, Kolumbien, Mexiko diskutierten dabei intensiv mit Kolleg*innen aus Europa. Neben mir waren dies weitere Gewerkschafter*innen und Abgeordnete aus Deutschland, Belgien, Norwegen und Frankreich.

Die Ungleichheit in den bestehenden Handelsverträgen und Abhängigkeiten entlang der Lieferketten waren bestimmende Themen der Diskussion. Und auch wenn es aufgrund der Vertraulichkeit der Gespräche nicht möglich ist, ins Detail zu gehen, so war ein Thema für die Europäer*innen von besonderer Wichtigkeit: „Grüner Neokolonialismus“. Dieser Begriff tauchte entlang fast aller Gespräche auf und formulierte Auswirkungen unserer Politik zur Transformation unserer Industrie in die Treibhausgasneutralität auf die Ökonomien und insbesondere auf die Lebensbedingungen der Völker in Lateinamerika und die Möglichkeiten der Gewerkschaften, darauf zu reagieren.

Die Regulierungen, die wir für unsere europäische Industrien entwickelt haben und weiterentwickeln, um den Wandel hin zu einer klimafreundlichen Produktion zu schaffen, wurden von den Kolleg*innen in der bislang angewandten Art als Bedrohung für den Aufbau eigener industrieller Wertschöpfungsketten in ihren Ländern angesehen. Unsere Forderungen an deren Produkte, um in unserem Sinne klimafreundlich zu sein, wurden als Versuch interpretiert, in Form eines neuen, dieses Mal „grünen“ Neokolonialismus, Lateinamerika aus dem europäischen Markt rauszuhalten.

Auch wenn es in der Diskussion natürlich auch möglich war, sowohl die Intention unserer Transformationsagenda zu erläutern und darzustellen, dass es aus europäischer gewerkschaftlicher Sicht keinen „neokolonialistischen“ Politikimpuls gibt, so ist sehr deutlich geworden, wie groß der Gesprächsbedarf ist und auch die Notwendigkeit, gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, unsere Transformation in die Treibhausgasneutralität in Einklang zu bringen mit der Notwendigkeit der Länder in Lateinamerika, eigene industrielle Wertschöpfung aufzubauen.

Es ist der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem DGB-Bundesvorstand zu danken, dass diese Möglichkeit des Austausches geschaffen wurde. Die Stiftung Arbeit und Umwelt wird sich dieses Themas im Jahr 2025 annehmen.