Olaf Scholz will in die Transformation investieren und dabei wettbewerbsfähig bleiben. Doch mit einem Sparbudget lassen sich Rüstungsanstrengungen, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit nicht erreichen, mahnen Ökonomen aus Frankreich und Italien.
Christian Schubert und Niklas Záboji, Rom/Paris (© FAZ)
Wie hoch sollen Staatsschulden sein und wie stark sollen sich Regierungen dafür an Regeln binden – zu diesen Fragen ziehen sich tiefe Gräben durch Europa. Mit erheblichem Staunen blicken viele vor allem von angelsächsischem Denken geprägte Ökonomen, oft aus Ländern mit hoher Staatsverschuldung, auf die aktuelle Debatte in Deutschland. Mit einer Staatsverschuldung von nur rund 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) hat die Regierung der größten europäischen Volkswirtschaft nach ihrer Meinung noch viel finanzpolitischen Spielraum.
Die Diskussionen brechen immer dann besonders heftig aus, wenn Deutschland so wie jetzt als Wachstumslokomotive in Europa ausfällt und damit auch andere Länder bremst. Der Kampf gegen den Klimawandel, der nur grenzüberschreitend funktionieren kann, und die aktuellen Kriege verschärfen die Gegensätze zusätzlich.
In Deutschland werde die Schuldenfrage moralisch überhöht, lautet einer der Vorwürfe nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts Mitte November, nicht zuletzt durch den kulturell relevanten Hinweis, dass im Deutschen anders als in vielen anderen Sprachen „Schuld“ und „Schulden“ den gleichen Wortstamm haben. Sich zu verschulden, dürfe aber nicht verteufelt werden, wenn es den nachfolgenden Generationen nütze.
Die Schuldenbremse schwäche Investitionsanreize
„Die Schuldenbremse ist nicht geeignet zur Bekämpfung des Klimawandels und für den neuen Standortwettbewerb, den die USA und China mit enormer Fiskalhilfe losgetreten haben“, meint Ludovic Subran, französischer Ökonom und Chefvolkswirt der Allianz. Sie schwäche die finanziellen Spielräume und damit auch die Anreize für Unternehmen, auf Zukunftsfeldern in Deutschland zu investieren.
„Man kann Wettbewerbsfähigkeit, Industrieförderung, Energiewende und soziale Gleichheit aktuell nicht unter einen Hut bringen, ohne sich staatlich zu verschulden“, sagt Subran und stellt darüber hinaus die Frage in den Raum, ob es wirklich ratsam ist, Juristen wie die deutschen Verfassungsrichter über solche wichtigen Fragen entscheiden zu lassen und nicht Politiker und Ökonomen.
Der Allianz-Chefvolkswirt steht mit seiner Einschätzung in Frankreich nicht allein da. Im Gegenteil, seit jeher wird Deutschlands Haushaltsdisziplin vom Großteil der Politiker, Ökonomen und Kommentatoren skeptisch gesehen und nicht selten als verhängnisvolle „Orthodoxie“ geschmäht.
„Die Granate, die von den rotgekleideten Karlsruher Richtern ins Herz der deutschen Koalition gezündet wurde, wird unweigerlich Auswirkungen auf die Europäische Union haben“, befand die konservative Zeitung „Le Figaro“. Nicht nur die Ukrainehilfe, auch die großen Prioritäten der EU wie die „grüne“ Transformation oder die strategische Autonomie könnten darunter leiden.
Mehr als 500 Milliarden Euro „ungenutztes Schuldenpotential“
Olivier Passet vom Forschungsinstitut Xerfi sieht Deutschlands vermeintlichen haushaltspolitischen Sonderweg jetzt, wo Karlsruhe die vielen zur Umgehung der Schuldenbremse geschaffenen Sondertöpfe auf den Prüfstand stellt, endgültig in der Sackgasse. „Strategische Bereiche der öffentlichen Politik, wie Klima, Verkehr und Verteidigung, die kontinuierliche Anstrengungen erfordern, sind in ihrem Fortbestand gefährdet“, zeigt auch er sich überzeugt. „Diese Investitionen können nicht in der Zwangsjacke der Verfassungsbremse untergebracht werden, während Deutschland seine Wirtschaft dringend erneuern und umstellen muss.“
Passet spricht von einem „ungenutzten Schuldenpotential“ von mehr als 500 Milliarden Euro in den kommenden vier bis fünf Jahren. Wenn Deutschland diese Summe auf seine heutige Schuldenplanung draufpacke, läge das Haushaltsdefizit mit nur 2 bis 2,5 Prozent immer noch deutlich unter dem französischen Niveau.
Frei von Widersprüchen ist die französische Kritik indes nicht. So verspricht man sich von mehr staatlichen Investitionen einerseits eine Stärkung der eigenen Wirtschaft, die gerade auf Industrieebene eng mit der deutschen verflochten ist. Wenn Deutschland dann aber wie unlängst während der Energiekrise oder zur Förderung von Tesla- und Intel-Werken viel Geld ausgibt, ist das Murren andererseits ebenfalls groß.
Starke Kritik kommt auch aus Italien
„Deutschland legt sich mächtig ins Zeug, zum Nachteil seiner Nachbarn, darunter Frankreich, die nicht über die gleichen Mittel verfügen“, schrieb das Wirtschaftsmagazin „Challenges“ im Oktober. Berlin sei „zu allem bereit, um seinen Vorsprung auszubauen“.
Das Magazin zitierte den medial sehr präsenten französischen Ökonomen Patrick Artus mit den Worten, dass sich gar Deutschlands Beharren auf den Maastricht-Regeln primär nicht mit „Haushaltsorthodoxie“ erklären lasse. Vielmehr gehe es vor allem darum, „damit die Möglichkeiten seiner Nachbarn (einzuschränken), ausländischen Investoren Unterstützung zu gewähren“.
Aus Italien kommt ähnlich starke Kritik an der deutschen Haushaltspolitik. Ökonom Francesco Giavazzi etwa, ein unter anderem in Amerika ausgebildeter enger Wegbegleiter von Mario Draghi, unterscheidet zwischen guten und schlechten Schulden.
„Schuldenfinanzierte Investitionen für das Klima sind gute Schulden, das heißt, sie übertragen Schulden auf unsere Kinder, die sie zu Recht zurückzahlen sollten. Diese Schulden nutzen unseren Kindern mehr als uns selbst, also ist es nur gerecht, dass die Kinder sie auch bezahlen. Denn wir hinterlassen ihnen einen Planeten, auf dem sie weiterleben können“, sagt Giavazzi.
Mit dem Krieg verhalte es sich ähnlich. „Wenn es einen Krieg gibt, trägt die Generation, die in den Krieg zieht, die Kosten und bezahlt oft mit ihrem Leben. Die nächste Generation lebt bestenfalls sicher in einem freien Land. Daher ist es nur fair, dass sie die Kosten des Krieges mittragen“. Allgemein könnten gute Schulden Investitionen und „gut konzipierten Subventionen“ dienen, schlechte Schulden dagegen finanzierten etwa die Senkung des Rentenalters oder unproduktive Ausgaben.
Verstärkt die Schuldenbremse Abschwung und Aufschwung?
In konjunktureller Hinsicht wirft Giavazzi der deutschen Schuldenbremse vor, prozyklisch zu wirken, den Abschwung also durch Sparanstrengungen und den Aufschwung durch Mehrausgaben zu verstärken. Das könne Italien nicht kalt lassen. „Wenn eine solche prozyklische Regel Deutschland in die Rezession drängt, dann überträgt sich diese Rezession auf andere Länder“, sagt er.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland hat in seinem Jahresgutachten 2019/2020 den Vorwurf der prozyklischen Wirkung indes zurückgewiesen, denn die Defizitgrenze von 0,35 Prozent des BIP beziehe sich auf das „strukturelle“ und damit konjunkturbereinigte Minus und akzeptiere über das eingebaute „Kontrollkonto“ zeitweilige Überschreitungen.
Doch für Giavazzi ist das nicht überzeugend. Er hält die Festlegung einer numerischen Grenze für falsch und beschimpft sie sogar als „Irrsinn“, weil sie im Zeitverlauf zu starr sei. „Das Defizit muss schwanken können“, weil im Abschwung häufig die Sozialausgaben wachsen. Besser wäre eine unabhängige Institution, die darüber entscheide, wie viel finanzpolitischen Spielraum ein Land zu einem bestimmten Zeitpunkt habe.
Den Schuldenstand „der Kompetenz der Nationen“ überlassen
Italien, das Heimatland Giavazzis, der anderthalb Jahre der wichtigste Wirtschaftsberater des ehemaligen Ministerpräsidenten Draghi war, steht in der Schuldenfrage mit seiner Staatsverschuldung von mehr als 140 Prozent des BIP freilich als abschreckendes Beispiel da. Das streitet der Ökonom nicht ab. Eine Schwankung zwischen 60 und 100 Prozent sei in der Regel „nicht gefährlich und sollte der Kompetenz der Nationen überlassen bleiben“, findet er.
Die von den Ökonomen Carmen Reinhart and Kenneth Rogoff vorgebrachte Zahl, dass Staatsschulden ab ungefähr 90 Prozent negative Wirkungen auf das langfristige Wachstum ausüben können, sieht er als einen empirischen Durchschnittswert im Rückblick auf sehr viele Länder, nicht aber als Handlungsempfehlung, zumal manche Staaten etwa wegen umfangreicher Unterstützung ihrer Arbeitslosen mehr Flexibilität brauchten.
Auch in Frankreich, das mit rund 110 Prozent des BIP ebenfalls einen deutlich größeren Schuldenberg vor sich herschiebt als der deutsche Staat und nach wie vor fast 5 Prozent Haushaltsdefizit aufweist, schrillen im Zuge der steigenden Zinskosten die Alarmglocken. Haushaltsdisziplin nach deutscher Machart wird deshalb nicht gefordert, sehr wohl aber eine stärkere Priorisierung der Staatsausgaben.
Auf Regierungsseite verspricht man Reformen und zumindest einen stufenweisen Schuldenabbau. „Man will gleichzeitig schnell reindustrialisieren und dekarbonisieren und die Kaufkraft und die Tragfähigkeit des Haushalts sichern“, sagte in der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ kürzlich der Ökonom Philippe Martin, der bis voriges Jahr dem einflussreichen Expertengremium CAE vorsaß. Kurzfristig sei es unmöglich, diese verschiedenen Ziele gleichzeitig zu erreichen. Martin sprach von einem „neuen Unmöglichkeitsdreieck“.
Deutsche Sparanstrengungen nicht überschätzen
Italien hat seinen im Jahr 2012 reformierten Verfassungsartikel 81, nach dem Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sein müssen, seither immer wieder ausgesetzt. „Jeder künftige wirtschaftliche Schock kann die Schulden Italiens aus dem Gleichgewicht bringen. Das Land ist verletzlich“, warnt Lorenzo Codogno, ein in London arbeitender Ökonom, der einst Chef-Volkswirt des Wirtschafts- und Finanzministeriums in Rom war.
In Bezug auf Deutschland ist er indes eine der weniger alarmierten Stimmen unter Italiens Ökonomen. Die Auswirkungen deutscher Sparanstrengungen, wie hoch sie auch immer ausfallen, sollten nicht überschätzt werden, weder bei den Nachbarn noch im Inland. „Deutschland ist eine große und diversifizierte Volkswirtschaft mit einem soliden Fundament.“ Auch 60 Milliarden Euro könnten über drei Jahre eingespart werden, das wäre nicht viel mehr als ein halber Prozentpunkt des BIP im Jahr, zudem ermöglichten die Regeln eine gewisse Flexibilität, und einige Programme würden vielleicht nur verschoben.
Im kommenden Jahr erhole sich die Wirtschaft wahrscheinlich auch wieder. Ein Freund der Schuldenbremse ist auch Codogno nicht: Wegen neuer Anforderungen an die Regierung müsste sie angepasst werden. Doch vorher noch „ist es Zeit für andere Volkswirtschaften, ihre exzessiven Defizite und Schuldenstände anzugehen“, plädiert Codogno.
Ist Deutschland „besessen von der Staatsverschuldung“?
Eine Mehrheit der italienischen Ökonomen dürfte indes den Versuch ihrer Regierung unterstützen, bei den Verhandlungen um die Schuldenkriterien des Wirtschafts- und Stabilitätspaktes in Brüssel mehr Flexibilität zu erreichen. „Für alle gleiche quantitative Beschränkungen der Staatsschulden in Prozent des BIP“ sei ein „schwerer Fehler“, meint Marcello Messori von der Universität Luiss in Rom. Das habe auch nicht funktioniert. Die Schulden-Tragfähigkeit „hängt von vielen landesspezifischen Variablen ab: Wirtschaftswachstum, Höhe der Kreditkosten, Verfügbarkeit und Verteilung des Nettofinanzvermögens und etwa die Funktionsweise der Institutionen“.
Deutschland sei in dem Sinne „besessen von der Staatsverschuldung“, als es auf eine formale, aber nicht funktionierende Kontrolle der Verschuldung bestehe, anstatt zu akzeptieren, dass die Staaten unter der Kontrolle der EU-Kommission auf individuellen Wegen die Staatsverschuldung eindämmen. Es gehe nicht um die Schuldenhöhe, sondern um die Wachstumsrate der Wirtschaft im Verhältnis zum durchschnittlichen Zinssatz. Das Wachstum dürfe im Interesse kommender Generationen nicht gedämpft werden, fordert Messori.
Weil sich Deutschland nun aber selbst an die Kette lege, drohe Unheil: Das veraltete Produktionsmodell Europas müsse dringend durch „starke öffentliche und private Investitionen“ in Digitalisierung, Umwelt- und Klimaschutz sowie soziale Inklusion modernisiert werden. „Der Anstoß für radikale Veränderungen kann nur von Deutschland ausgehen; und ein stagnierendes Deutschland ist ein ernsthaftes Hindernis“, sagt Messori.
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