Leserinnen und Lesern der „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ ist Steffen Mau als einer der drei Autoren bekannt. In seinem im Juni 2024 erschienenen Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ seziert Mau, der 1968 in Rostock geboren wurde und eine Professur für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin innehat, die weithin vertretene Annahme und Zielvorgabe an den Osten, dass dieser sich mit der Zeit immer weiter dem deutschen Westen annähern und schließlich ökonomisch, politisch und kulturell darin aufgehen würde.
„Das Buch geht von dem Befund aus, dass sich die ursprüngliche Erwartung einer Angleichung oder Anverwandlung des Ostens an den Westen im Lichte jüngerer Entwicklungen als Schimäre erweist“, leitet Mau seine Analyse ein. Auf insgesamt 145 Seiten zeigt er faktenreich und kundig auf, wie weit die Lücke klafft zwischen scheinbar objektiv sich immer weiter annähernden Lebensverhältnissen, subjektiver Wahrnehmung weiter wirkender Benachteiligungen und dem Erstaunen darüber im Westen.
Mau beschreibt sowohl ökonomische, soziostrukturelle als auch kulturelle Unterschiede, die für Deutsche mit der Perspektive aus dem Westen nicht offensichtlich erscheinen, und leitet daraus ab, dass die Unterschiede zwischen Ost und West auch aus politischen und kulturellen Entwicklungen herrühren, die lange vor dem Mauerfall ihren Ursprung haben, aber immer noch wirksam sind.
„Heute müssen wir konstatieren, dass diese Art der kulturellen Anverwandlung nur teilweise stattgefunden hat. Studien zum politischen Verhalten finden im Ost-West-Vergleich weder Konvergenz noch Divergenz, sondern – recht unabhängig von ökonomischen Bedingungen und der Frage der Sozialisation – einen Fortbestand bedeutsamer Unterschiede. (…)“. Dabei weist Mau dieser Dimension höchste Bedeutung zu und bringt sie mit den seit 1990 erlebten Brucherfahrungen im Transformationsprozess der ehemaligen DDR in Verbindung.
Wer heute mit Menschen im Osten Deutschlands über „Transformation“ spricht, muss wissen, dass damit häufiger negative bis hin zu traumatischen Erfahrungen verbunden werden als mit dem Bild eines Aufbruchs und neuer Chancen. Es gibt „(…) aufgrund früherer Krisen eine leicht aktivierbare Verlustaversion. Verluste, ob materieller oder kultureller Art, sind gesellschaftlich nie leicht zu verarbeiten. Sie schlagen aber dann stärker zu Buche, wenn es zuvor bereits existenzielle Erschütterungen gab, die man nicht noch einmal erleben möchte. Erfahrungen struktureller und biografischer Brüche machen nicht notwendigerweise veränderungskompetenter, sie können auch eine Verteidigungsbereitschaft mobilisieren, so dass Menschen ihre soziale Energie darauf richten, erneute Einbußen zu vermeiden. (…)“
Steffen Mau bietet keine Rezepte gegen das Erstarken der AfD oder gegen Rassismus an. Er hat aber ein im besten Sinne aufklärerisches Buch über die politischen und kulturellen Zustände im Osten der Republik geschrieben. Die Lektüre ist sehr zu empfehlen!
Ihr Andrea Arcais