Simon Schaupp hat die fortschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt hautnah erlebt, denn er stand für seine Dissertation, auf deren Grundlage dieses Buch entstanden ist, selbst am Fließband in der Industrie 4.0 und arbeitete als algorithmisch gesteuerter Fahrradkurier. Auf der Grundlage dieser teilnehmenden Beobachtungen und weiteren 54 Interviews von unter anderem Betriebsrät:innen, Manager:innen, Ingenieur:innen zeichnet Schaupp ein Bild der digitalisierten Arbeitswelt, das nachdenklich macht. Vom Datenhandschuh bis zur Appsteuerung der Lieferfahrten stehen die Beschäftigten den anonymen Kontrollinstrumenten gegenüber und entwickeln ihre eigenen Strategien, mit ihnen umzugehen. Der Autor zeigt, dass es immer komplexe Aushandlungen darüber gibt, wie Technologien konkret vor Ort eingesetzt werden und dass die Beschäftigten immer eine „Technopolitik von unten“ betreiben:
„…die Digitalisierung [wird] bislang in den meisten Diskussionen als unvermeidbarer Prozess dargestellt, der kaum andere Optionen zulässt als die Anpassung an die neuen technischen Sachzwänge. Tatsächlich ist die Entwicklung, Implementierung und Nutzung digitaler Technologie […] jedoch ein hochpolitischer Prozess im Kontext gegensätzlicher Interessen.“
Ein lesenswertes Buch, das in die Tiefe geht, ohne zu abstrakt zu werden. Besonders hoffnungsvoll stimmt die Beschreibung der neuen Solidaritätskulturen, die sich in den digitalisierten Betrieben entwickeln. Die Konsequenz muss sicherlich sein: Je künstlicher die Intelligenz wird, desto menschlicher muss die Arbeitswelt werden.
Nils Schlesinger
Technopolitik von unten
Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung
Simon Schaupp
Matthes & Seitz Berlin 2021,
352 Seiten, 22 Euro
Link zum Buch & Verlag
Technopolitik von unten | Matthes & Seitz Berlin