Von Alexander Bercht, Vorstandssekretär des Vorsitzenden der IGBCE
Die Lage ist ernst
Die deutsche Industrie steht vor einem Jahrzehnt, das ihre zukünftige Rolle in der Welt und ihre Bedeutung für unseren Wohlstand neu justieren wird. Dies gilt für die chemische und die energieintensive Industrie in besonderer Weise. Der Krieg in der Ukraine und das Ende der wirtschaftlichen und energiepolitischen Beziehungen zu Russland haben Schockwellen ausgelöst, mit denen wir auf absehbare Zeit zu kämpfen haben werden. Den Industriestandort Deutschland auszuknocken ist Russland dank guten Krisenmanagements von Politik und Sozialpartnern nicht gelungen. Energieversorgung und Produktion wurden in vielen Bereichen in Rekordgeschwindigkeit umgestellt; der Staat hat sich mit enormer, finanzieller Schlagkraft der Krise entgegengestemmt. Im Großen und Ganzen bisher erfolgreich. Dass der Standort nicht K.O. gegangen ist, darf nicht den Blick dafür verstellen, dass er angezählt ist. An vielen Stellen wurden energie- und gasintensive Prozesse und Anlagen heruntergefahren. Das absehbar höhere Energiepreisniveau lässt Unternehmen die Rentabilität von Prozessen, Wertschöpfungsstufen, Investitionen und ganzer Standorte neu bewerten.
Lebenslügen der Transformation überwinden
Die europäische Energiepreiskrise ist eben dies, eine europäische Krise. Wichtige Wettbewerber in den USA und Asien sehen sich nicht mit dieser Lage konfrontiert. Diese Krise fällt in ein Jahrzehnt, das auch ohne diese dramatischen Entwicklungen Europa und seine Industrie vor einen anspruchsvollen Veränderungsprozess gestellt hätte, um in den nächsten zwei Jahrzehnten weitgehend klimaneutral zu werden. Alle Entwicklungen zusammen haben das Potenzial, die europäische Industrie in eine Turbo-Transformation zu zwingen. Mit offenem Ausgang. Dies macht es umso notwendiger nüchterner und realistischer auf den Zustand der Energiewende zu blicken; auf die Kluft, die sich immer weiter auftut, zwischen immer ambitionierteren Klimazielen und einer ambitionslosen Industrie- und Energiepolitik, die zu wenig realistische Lösungen für eine erfolgreiche Transformation der Industrie an unserem Standort anbietet. Fehlende Konsequenz beim Ausbau erneuerbarer Energien, Ignoranz gegenüber den massiven Investitionsnotwendigkeiten in Fachkräfteentwicklung und Infrastruktur oder Realitätsverweigerung bei notwendigen Transformations(übergangs)technologien, wie CCS oder blauem Wasserstoff. Die jetzige Krise sollte uns dazu bewegen, die Zeit der Illusionsproduktion hinter uns zu lassen und einen Pakt für die Industrie zu entwickeln, der von Weitsicht, Konsequenz und Realismus geprägt ist.
Zeit für große Industriepolitik
Eine zentrale Grundlage für einen solchen Pakt ist die Bereitschaft der Unternehmen zur Loyalität zum Standort und zur komplexen Gestaltung der Transformation in Europa. Auch die Politik muss das Bekenntnis abgeben, dass Dekarbonisierung durch Deindustrialisierung keine geeignete Strategie sein kann, wenn wir unseren Wohlstand langfristig erhalten und nachhaltig erwirtschaften wollen. Neben diesen klaren Commitments wird es darauf ankommen, die Rolle des Staates in der Wirtschaft neu zu definieren. Die Brücke über die kommenden zwei Transformationsjahrzehnte wird nicht allein auf den Pfeilern unreflektierter Marktradikalität gebaut, es braucht ein kluges Zusammenspiel zwischen Industrie und Politik. Transformationsförderung durch Klimaschutzverträge, kluge Regulierung, die nachhaltige Transformation am Standort belohnt, eine Infrastrukturoffensive (z.B. in den Ausbau der Energienetze), um den Umbau der Unternehmen und Branchen zu flankieren. Dies sind nur einige Stichworte, die die veränderte Rolle des Staates beschreiben.
Auch Europa muss seinen Blick verändern. Weg von der übertriebenen Binnenmarktfokussierung, die durch das europäische Beihilferecht nach innen Wettbewerbsverzerrungen verhindern will, dabei aber zu wenig die globalen Herausforderungen und den Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsräumen in den Blick nimmt. Dies gilt umso mehr, als die USA und China ihrer (Re)Industrialisierung oberste Priorität in der Wirtschaftspolitik einräumen und dabei wenig zimperlich ihre Interessen durchzusetzen versuchen. Green Deal und Beihilferecht müssen daher stärker mit einer europäischen Industriestrategie verzahnt werden, die den Blick nach außen in die Welt richtet.
Dies alles zeigt: Wer Industrie in Deutschland und Europa halten und in eine nachhaltige Zukunft führen will, kann nicht mehr klein denken. Dafür sind die Aufgaben zu groß. Es ist Zeit für große Politik.
Alexander Bercht
Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand der IGBCE